Taube Grau

Die Rettung von Grau

Es gibt oft Situationen in denen ich nicht weiß ob ich richtig handle. So wie bei der Rettung von Grau, einer Taube die wir vor unserer Haustür fanden. Wenn jemensch die Angewohnheit hat, die Dinge von verschiedenen Standpunkten aus zu betrachten und oft zu überdenken, dann findet mensch sich im Zwiespalt wieder. Denn am Ende gibt es kein richtig oder falsch.

Zu diesem Gefühl kann ich euch sehr das Buch „Identitti“ von Mithu Sanyal empfehlen. Thema des Buches: Saraswati, Professorin für Postcolonial Studies gibt sich als person of colour aus, doch es stellt sich heraus, sie ist weiß. Ihr bis dato treues Geleit aus Studierenden ist schockiert. Mensch ist hin und her gerissen zwischen der Meinung, dass Saraswati etwas Unverzeihliches getan hat und der Ansicht, dass sie Recht hat mit ihren Argumenten.

Meine eigene Entscheidung war etwas unspektakulärer als die von Saraswati in Identitti. Doch ich war hin und her gerissen.

Vor ein paar Wochen fanden wir kurz vor unserer Haustür eine Taube, die nicht mehr richtig fliegen konnte. Unser Hund hätte sie am liebsten gefressen und das hätten wohl auch etliche Katzen der Nachbarschaft gerne getan. Deswegen hatte ich kurzerhand beschlossen sie mitzunehmen, denn es wäre ja nicht menschlich gewesen, so ein Wessen dem unumgänglichen Tod durch Gefressenwerden auszuliefern.

Meine Familie war auch direkt dabei. «Ja, ja» das Kind, «natürlich nehmen wir die Taube mit!» begeistert, «Du hast Recht» der Mann «es wäre ja nicht nett sie liegen zu lassen». So brachten sie schnell einen Karton und trugen die Taube auf unseren Balkon.

Aber was macht mensch mit einer Taube an einem Sonntagnachmittag? Erstmal Googlen. Das Einzige, was nah genug an Taubenfutter herankam in unserem Haushalt war Reis. Und die Taubenfreunde solle mensch kontaktieren, das riet uns eine Freundin.

Während eines turbulenten ersten Arbeitstages am Montag fand ich dann also die Telefonnummer der „Taubenfreunde Münster“ und versuche den Kontakt aufzubauen. Mensch schrieb mir WhatsApp-Nachrichten. Wir sollten die Taube nicht mehr mit Reis füttern, wurde mir gesagt, den dürften Tauben nämlich nicht haben und auch kein Wasser solle mensch ihr geben. Das fand ich bei Temperaturen von über dreißig Grad doch etwas grausam. Reis gab es also keinen mehr, das Wasser ließen wir ihr. Wir hatten die Vermutung dass der Taubenmensch glaubte wir würden ihr das Wasser gewaltvoll einflößen.

Das taten wir nicht. Wir waren dem Vorurteil verfallen dass Tauben -die Ratten der Lüfte- nicht gerade hygienische Tiere sind. Ich muss leider zugeben dass sich an dieser Ansicht nicht viel geändert hat. Anfassen wollten wir die Taube also möglichst gar nicht und so schnell wie möglich los werden wollten wir sie auch.

Der Taubenmensch bat darum, wir sollten sie zum Tierarzt bringen, danach würde der Taubenmensch übernehmen. Widerwillig gab ich mich geschlagen und fuhr, nach einem vollen Einarbeitungstag in meinem neuen Homeoffice-Job, mit meinem schreienden Baby (weil es Autofahren hast) 45 Minuten lang bis zu der einzigen Tierarztpraxis in der Umgebung, in der Vögel behandelt werden.

Mir wurde ein Formular überreicht, in dem ich die Daten des Tieres angeben sollte. So wie Name des Besitzers, Name des Tieres, Alter, Geschlecht, Spezies, Rasse, Farbe… Ich schrieb „Taube, Grau“ und reichte das Formular dem Tierärztinnenhelfer. Der las laut „Taube, Grau“ und lachte.

Bakterienbefall habe sie (um meine Vorurteile zu bestätigen) und ein bisschen angeschlagen, wurde wohl von einem Auto angefahren, sagte die Tierärztin. Kein Flügel war gebrochen. Ich bekam zwei kleine Ampullen mit irgendeiner Medizin. Einen Teil davon hatte die Tierärztin ihr schon tief in den Hals geschoben. Sie schrieb so etwas wie „5 Tage geben“ auf den Karton. Die Taubenfreunde würden sich schon darum kümmern.

Ich schrieb dem Taubenmensch und hoffte dass ich die Verantwortung bald abgeben könnte. Der Taubenmensch war schwer zu greifen, hatte viel zu tun sagte sie. Meldete sich irgendwann nicht mehr. Ich war ratlos.

Am dritten morgen versuchte Grau zu fliehen. Ich beobachte durch das Balkonfenster, wie sie sich aus dem Karton befreite und etwas behände herum flatterte. „Sei es drum“ dachte ich „dann ist sie wohl wieder zu Kräften gekommen“ und ich ließ sie. Doch dann schlug meine Stimmung um, „Nein!“ dachte ich. „Ich habe nicht diese Zeit und Kraft und Sprit und sonstige Ressourcen investiert damit du jetzt einfach davonfliegst, dich von der nächsten Katze fressen lässt und alles umsonst war.“

Ich nahm also all meinen Mut zusammen, packte Grau mit beiden Händen, flößte ihr das Medikament ein und stopfte sie zurück in den Karton. „Du nimmst jetzt erst dein Medikament und dann darfst du fliegen“.

In den Tagen darauf kamen zwei Freundinnen zu Besuch und  amüsierten sich darüber dass ich eine Taube gesund pflegte. „Na, sie konnte halt nicht mehr fliegen. Sie wäre ja gefressen worden.“ Verteidigte ich mich. „Na und? Es ist eine Taube.“ Antwortete meine Freundin.

Ich hatte es vor allem getan weil ich viel über Artensterben gelesen hatte und wie sehr die Natur mehr denn je leidet. Ich weiß, Tauben sind weitaus keine bedrohte Art. Doch ich hatte irgendwie das Gefühl ich muss Tieren und Pflanzen helfen wie ich kann. In der einen Woche in der ich mich um die Taube kümmerte schwankte meine Meinung immer wieder. Ob es sinnvoll war all diese Mühen auf mich zu nehmen, mein Baby einer solchen Strapaze zu unterziehen, die Umwelt mit so viel CO2 zu belasten, Ressourcen zu verbrauchen die vielleicht ein anderes Tier gebraucht hätte?

Nach genau einer Woche, am Sonntag ließen wir Grau fliegen. Wir sahen sie nie wieder, diese unverkennbare Taube mit dem krummen Schnabel und dem komplett grauen Gefieder, ohne einen einzigen Fleck der sie einer speziellen Taubenart zugehörig gezeichnet hätte. Ein paar Tage später trat ich morgens auf den Balkon und sah einen großen Haufen grauer Federn auf dem Rasen. Offensichtlich eine von einer Katze gefressene Taube.

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